Im ersten Teil meines Artikels „Von Enttäuschung überflutet“ bin ich darauf eingegangen, dass du deiner eigenen Wut begegnest, wenn du auf einen Wutanfall deines Kindes reagierst. Außerdem habe ich dir gezeigt, wie du am besten mit deiner Wut umgehen kannst: sodass sich zwischen dir und deinem Kind wieder ein harmonisches und liebevolles Verhältnis einstellt. Es gibt aber noch einen anderen Punkt, der ausschlaggebend ist und der deine Wut vielleicht weniger aufflammen lässt, wenn dein Kind das nächste Mal in einem Wutanfall tobt.
Dein Kind braucht besonders in den ersten drei Lebensjahren dich als Mutter oder Vater als außenstehendes Selbst. So hilfst du ihm, seine Wut wieder zu regulieren und zu überwinden. Dein Kind braucht dich und deine innere Ruhe, um wieder in seine Ruhe zu finden. Es ist emotionales Wissen, das du hier an dein Kind weiterreichst. Dein Kind hat noch rein gar nichts in sich, um selbst mit dieser Wut umzugehen. Das macht diese Zeit besonders tragisch, denn bei den meisten verläuft sie unbewusst. So geschehen in den Familien viele Dramen für beide: für Eltern und Kind.
Denn das, was du deinem Kind in dieser Zeit mitgibst, ist sein emotionales Wissen von morgen. Auf diesem Fundament baut nicht nur auf, wie dein Kind mit seinen Gefühlen umgehen kann. Nein, darauf baut alles in seinem Leben auf: Seine psychische und körperliche Gesundheit für den Rest seines Lebens hängen von dieser Zeit ab. Im Gehirn deines Kindes ist in dieser Zeit noch nichts vorhanden, das von selbst aus seine Wut herunterregulieren kann. Es braucht dafür Bezugspersonen, die ihm helfen: dich als Mutter und dich als Vater, weil es zu dir eine natürliche, von der Schöpfung gegebene Bindung hat.
Als Mutter bist du hier sogar noch stärker in der Pflicht als der Vater, weil dein Kind dich aus der Zeit der Schwangerschaft sehr genau kennt und auf dich geprägt ist. Das heißt, die Gesundheit deines Kindes ist jetzt und in seiner Zukunft als Erwachsener maßgeblich von deinem Verhalten in der sogenannten Trotzphase abhängig. Beachte also immer, ob du die Lebensenergie deines Kindes mit deinem Verhalten stärkst oder schwächst.
Ich fasse noch einmal zusammen: Dein Kind schreit dich nicht aus Trotz an. Es ist vollkommen falsch, diese Entwicklungsstufe als Trotzphase zu bezeichnen, denn dein Kind tut nichts, um sich dir zu widersetzen oder um dich abzulehnen. Das ist eine ablehnende Lebenseinstellung. Dein Kind hat ganz im Gegenteil eine durch und durch bejahende Lebenseinstellung: Es hat eigene Vorstellungen davon, wie Dinge laufen sollen, wie etwas zu funktionieren hat oder was du ihm antworten sollst. Diese Vorstellungen weichen jedoch immer öfter von deinen ab. Wenn die Vorstellungen deines Kindes nicht eintreten, ist es von seiner eigenen Enttäuschung überflutet. Versuche, dieses Wissen in dir zu tragen und damit verbunden zu bleiben, wenn dein Kind das nächste Mal explodiert. Es tut dies nicht mit Absicht und schon gar nicht, um dich zu ärgern. Vielmehr fordert es deine absolute Hilfe ein, um wieder in sein Gleichgewicht zurückzufinden und diese überschießende Enttäuschung, diesen Schmerz zu regulieren.
Wenn es dir nicht möglich ist, in solchen Momenten nicht wütend zu sein, dann verurteile dich nicht. Versuche jedoch stets, nicht aus deiner Wut heraus zu handeln und dich unbewusst nicht von deiner Wut leiten zu lassen. Du musst deinem Kind nichts sagen, also brauchst du es nicht wütend anzuschreien. Dein Kind ist jetzt für Worte sowieso nicht empfänglich: Jedes Wort wäre sinnlos. Schweige, fühle deinen Atem, atme durch deine Wut hindurch und trage dein Kind, beruhige es. Zeige ihm, dass du da bist und dass dies eine Konstante ist, auf die es sich verlassen kann. Auch beim nächsten Wutanfall.
An dieser Stelle begegnen mir viele Eltern während unserer Beratungsgespräche mit: „Ja, aber es muss doch Grenzen gesetzt bekommen“ und „Sie hat doch absichtlich das Glas vom Tisch geworfen, obwohl sie weiß, dass sie das nicht soll.“ Oder „Er hat doch absichtlich gegen die Balkontür getreten und das Fensterglas ist zersprungen“.
Ja, du bist wütend. Die Wut deines Kindes ist jedoch um ein Vielfaches größer. In ihm ist nichts vorhanden, was diese Wut regulieren kann. Und es kann während seiner Wut nicht reflektieren, wie das bei dir der Fall ist. Denn rein physiologisch beginnt die Ausbildung der linken Hirnhälfte, also die Entwicklung der rationalen Bildung, erst nach dem 18. Lebensmonat. Vorher ist in deinem Kind die rechte Hirnhälfte aktiv und es findet eine rein emotionale Bildung statt. Dein Kind ist in seiner Wut in der rechten Hirnhälfte verankert und damit voll in der Emotionalität gefangen. Daher gibt es keine Rationalität, auch wenn dein Kind manche Zusammenhänge vielleicht schon verstanden hat.
Solange die Wut aktiv ist, ist die linke Hirnhälfte außer Kraft. Und zwar so lange, bis die Wut wieder reguliert und die rechte, „emotionale“ Hirnhälfte wieder entlastet ist. Mit der Wut wird allein die rechte Hirnhälfte angesprochen und die linke arbeitet erst wieder, wenn das Gefühl der Wut bewältigt ist. Das heißt mit anderen Worten: Dein Kind weiß nicht wirklich, was es tut und was du als Erwachsener deinem Kind viel zu oft zumutest.
Mache dir auch bewusst, was du von deinem Kind erwartest: dass es während seines Wutanfalls weiterhin wissen soll, dass es das Glas nicht vom Tisch werfen soll usw. Mache dir weiterhin bewusst, dass du dein Kind nicht anschreien oder schlagen möchtest und dass du im Anschluss unter deiner Tat leidest, es während deiner Wut jedoch trotzdem tust. Verlange von deinem Kind, dessen Hirnreife so eine Leistung noch nicht einmal hergibt, nicht, was du selbst auch nicht erfüllen kannst.
Kümmere dich darum, dass du dein Handeln beobachten lernst und damit selbst reflektieren kannst, was du tust. So wird deine Wut nicht mehr blind über dich herrschen. Und so wirst du mit deinem Kind selbst auch Stück für Stück Heilung in dir erfahren: wenn du dein Kind in seinen Phasen von Wut begleitest, beobachtest und ihm ein Stück von dir, ein Stück Mama oder ein Stück Papa abgibst.
Trage dein Kind und beruhige es. Egal, was es getan hat. Ich habe eben aufgezeigt, dass du in der jetzigen Zeit maßgeblich an der Entwicklung der rechten Gehirnhälfte deines Kindes mitwirkst. Darauf baut in Zukunft auf, wie glücklich, selbstbewusst und gesund dein Kind ist. Sprich mit deinem Kind über die äußeren Umstände wie das Glas oder die Fensterscheibe erst wieder, wenn es wieder vollkommen ruhig und ausgeglichen ist. Benenne die Wut: „Deine Wut war sehr stark. Die hat das Glas vom Tisch geworfen“ oder „Die hat das Fenster kaputtgemacht. Ich verstehe deine Wut und du darfst auch wütend sein. Aber wir zerstören dabei keine Sachen.“
Bleibe bei solchen oder ähnlichen Sätzen. Gib nicht deinem Kind die Schuld, sondern weise diese Handlung der Wutenergie zu. Das wird dein Kind ebenso befreiend und entlastend empfinden. Sonst schlussfolgert es, dass es schlecht ist. Bleibe bei dem Konzept, auch wenn dein Kind in Zukunft all dies vergessen wird, wenn seine rechte Gehirnhälfte von der Wut durchdrungen ist und erst einmal all sein Handeln dominiert.
Zusammenfassend halte also in deinem Bewusstsein: Dein Kind ist von Enttäuschung überflutet. Es braucht dich, um aus seiner Wut in seine Mitte zurückzufinden. Jeder einzelne Wutanfall und jeder einzelne Prozess, in dem du es schaffst, dein Kind in seine Mitte zurückzuführen, wird eure Beziehung vertiefen. Je öfter du es schaffst, der Wut deines Kindes ohne eigene Wut zu begegnen, desto schneller hören die Wutanfälle auf. Die sogenannte Trotzphase ist eine Phase in der es besonders intensiv dich als Mutter und dich als Vater noch einmal einfordert, damit es sich auf den neuen Entwicklungsschritt vorbereiten kann.
Danach beginnt die Abgrenzung und der Bewegungsradius deines Kindes wird von allein größer. Wenn du es schaffst, deinem Kind bei einem Wutanfall empathisch und in Verbundenheit zu begegnen, wird sich zwischen euch schnell eine sehr tiefe und liebevolle Beziehung einstellen, die auf tiefem Vertrauen baut. Und das wünsche ich dir.
Deine Diana Hellers
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